Gedenkrede von Julius Meyer 1948

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Julius Meyer, Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde des Kreises Neuwied
Julius Meyer

Bericht über die Gedenkfeier an unsere Toten auf dem Friedhof in Niederbieber am Freitag, dem 17. September 1948 von Julius Meyer (Vorsitzender der jüdischen Kultusgemeinde des Kreises Neuwied)

 

Bei Einweihung des im Jahr 1947 zu Ehren unserer Toten auf dem Friedhof in Niederbieber errichteten Gedenksteines gelobten wir, alle Jahre eine Gedächtnisfeier abzuhalten. Am 17.09.1948 versammelten wir uns also zum zweiten Male, um unserer Toten zu gedenken. Der Vorsitzende hielt vor den versammelten Mitgliedern der Kultusgemeinde, den Freunden und Ehrengästen folgende Ansprache:

 

“Namens der jüdischen Kultusgemeinde des Kreises Neuwied begrüße ich alle die hier erschienen sind, um an dieser Gedenkstunde teilzunehmen. Unseren besonderen Gruß entbiete ich dem Herrn Vertreter der Militärregierung, dem Herrn Oberregierungsrat Rahn von der Landesregierung, dem Herrn Landrat des Kreises Neuwied Bruchhäuser, dem Herrn Amtsbürgermeister Lück, Herrn Bürgermeister Jung, sowie eben allen Teilnehmern, die durch ihre Teilnahme bekunden wollen, dass wir sie zu Freunden zählen mögen.

Als wir vor einem Jahr diesen Gedenkstein seiner Bestimmung übergaben, gelobten wir Hinterbliebenen, uns jedes Jahr einmal hier zusammenzufinden, um jener zu Gedenken, die das Opfer der furchtbaren Ausrottungspolitik eines Staatsgebildes wurden, was sich Deutschland nannte. Ich bitte alle Anwesenden sich zu erheben, um durch ein Schweigen von drei Minuten diesem Gedenken die Ehre zu erweisen. (Danke)

Wenn ich soeben das Staatsgebilde Deutschland von gestern erwähnte, so kann ich nicht umhin, einen kurzen Rückblick auf die nunmehr entstandenen Länder der letzten drei Jahre zu werfen. D.h., was ist denn nun eigentlich von Seiten der Länder geschehen? Was ist geschehen, um den Antisemitismus, dieses erbärmlichste und feigste Verbrechen an der Menschheit wirksam zu bekämpfen?! – und nachdem was durch den Antisemitismus sich im Namen Deutschlands in jenen 12 Jahren abspielte, was ist geschehen, um diesen Antisemitismus auszurotten?

Die Antwort geben uns die Länder selbst: Nichts ist geschehen, denn antisemitische Ausschreitungen, Friedhofsschändungen und andere Symptome der letzten drei Jahre zeigen uns, dass dieses Verbrechen in den Ländern, d.h., in Deutschland lebendig geblieben ist. Und dieses - trotz allem!! Ein kleiner Lichtblick bilden die Wenigen, die den Mut aufbringen, ihre Stimme gegen diesen Ungeist zu erheben und in unserem Kreisgebiet ist Herr Landrat Bruchhäuser derjenige, der aufrecht und mannhaft in aller Öffentlichkeit diese Verbrechen brandmarkt.

Durch seine Initiative sehen jetzt die Verbrecher des 9. November 1938 ihrer Aburteilung entgegen, das musste drei Jahre dauern! Wenn der hohe alliierte Gerichtshof in Nürnberg den Antisemitismus als Verbrechen erklärt hat, warum finden die Verantwortlichen sich nicht dazu bereit, für diese Verbrechen genau wie bei anderen Verbrechen die erforderlichen Strafmaßnahmen zu treffen? Schon der Gedanke an harte Strafen würde abschreckend wirken. Es ist ein großer Teil des deutschen Volkes, der sowohl passiv wie aktiv dem Antisemitismus verfallen ist, denn wenn es nicht so wäre, wie hätte die braune Mörderbande ihr blutiges Handwerk ausführen können? Und wenn es nicht so wäre, warum protestieren heute, nachdem es keine KZ mehr gibt, diese sogenannten Anständigen nicht in aller Öffentlichkeit gegen die jetzigen antisemitischen Ausschreitungen? Der bei fast allen Gelegenheiten sich bietende Einwand jenes angeblichen großen Teiles des deutschen Volkes, aus Angst vor Gestapo und KZ wäre man mundtot gemacht worden, ist damit widerlegt, ganz abgesehen von der Tatsache, dass der Braunauer Mörder mit einer kleinen Minderheit nie auf die Dauer ein 70 Millionenvolk hätte regieren können.

Die Bilanz der drei Jahre der sogenannten Befreiung ist von unserem Gesichtspunkte die: Wir sind aus Nazideutschland vertrieben worden und die kleinen Überreste, die nicht umgebracht wurden, sind wieder nach Nazideutschland zurückgekehrt. Darüber kann auch der tatsächlich kleine Teil der wirklichen Demokraten nicht hinwegtäuschen. Wenn ich vor drei Wochen erleben musste, dass sich ein angetrunkener 70jähriger Mann vor mich hinstellte und sagte: „Dich Jud haben sie auch vergessen zu erschießen!“ Es handelt sich um einen Schreiner, der in einer nicht zerstörten Synagoge eine Werkstätte eingerichtet und nun die Synagoge wieder räumen soll, wenn vor 14 Tagen in einem nahegelegenen Ort nachts grölende Burschen durch die Straßen zogen und antisemitische Lieder sangen, ich habe dieses selbst gehört, so muss ich an die Worte eines Ernst Wiechert denken, der, nachdem er eine Broschüre über Buchenwald schrieb und ihm eines Nachts die Fenster eingeworfen wurden, erklärte: „Dieses Volk ist so tief gesunken, ich habe keine Hoffnung mehr.“ Und ich füge hinzu, dass diesem Volk überhaupt der Wille fehlt, den Weg des Lasters zu verlassen. Auch hierüber mögen die wenigen Anständigen nicht hinwegtäuschen.

Wollte Gott, dass wir uns täuschen und Besinnung und Toleranz sowie guter Wille zur Herrschaft gelangen, und möge diese Feierstunde, die ich hiermit für eröffnet erkläre, dazu ihren Beitrag leisten.

Hierauf ergriff nach einer kurzen Ansprache von Amtsbürgermeister Lück Landrat Bruchhäuser das Wort und brandmarkte, indem er die Worte des Vorredners bestätigte, das antisemitische Verhalten weiter Bevölkerungsschichten. Bezüglich des Prozesses gegen die Verbrecher vom 9. November 1938 in Waldbreitbach und Oberbieber gab er seinem Unwillen über die heute noch nazistische Rechtsprechung Ausdruck.

Der Vertreter der Landesregierung, Oberregierungsrat Rahn, betonte, dass von Seiten des Landes alles versucht werde, um den Opfern des Faschismus und Antisemitismus gerecht zuwerden. Alle Opfer der Naziherrschaft müssten aber dazu beitragen den Ungeist des Faschismus auszurotten, indem sie durch ihr Zusammenhalten und Einwirken beispielgebend würden.

Auch Pfarrer Strauss aus Linz, der selbst anerkanntes Opfer des Faschismus und Mitglied des Betreuungsausschusses Neuwied ist, fand warme Worte über die Grundzüge des jüdischen Volkes und sein Wirken im deutschen Volk. Das die Humanität, die Menschlichkeit, eines ihrer Hauptcharaktermerkmale gewesen sei und das dieses Volk durch Intoleranz und Rassenhass die größten Opfer hatte bringen müssen, die je ein Volk gebracht hätte.

Nachdem der Vorsitzende alle denen gedankt hatte, die zum Gelingen der Feierstunde beigetragen hatten, war die diesjährige Gedächtnisfeier beendet.

 

Quelle: Friedrich-Wolf-Stiftung Mappe 171/2

 

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